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Eine Feier der Selbstlosigkeit

Mit Geld allein ist da nichts zu retten. Nur wer den Stolz und die Schönheit des 19. Jahrhunderts neu entdeckt, wird die Bahn wieder beleben.


Hanno Rauterberg
01. Oktober 2024
9 Min. Lesezeit

In Wahrheit ist die Bahnkrise nicht nur eine Krise der Bahn. Sie ist ein Symptom. Ein Zeichen dafür, dass da gerade etwas verrutscht. Etwas, das größer ist als das große Schienennetz, größer als die größte Bahnhofshalle.

Man muss sich kurz vor Augen halten, dass der Mangel, von dem gerade viele sprechen, ein Mangel an Geld, Kompetenz und Zuversicht, etwas erstaunlich Neues ist. Wäre das 19. Jahrhundert so kleinmütig gewesen wie unsere Gegenwart, die Bahn wäre nie gebaut worden. Auch gäbe es keine Stromtrassen, Kläranlagen, Wasser- und Gasleitungen, fast die gesamte Infrastruktur, Straßenlaternen, Parkanlagen, Fußgängerbrücken, verdankt sich einem kollektiven Wollen und dem Glauben daran, dass man heute etwas erdenken, planen und errichten muss, damit morgen oder auch erst übermorgen die Welt anders ausschaut. Infrastruktur hört sich nach Technik an, gemeint ist aber Selbstlosigkeit: die allgemeine Bereitschaft, etwas ins Werk zu setzen, das sich erst für künftige Generationen rechnen wird.

Noch etwas kam im 19. Jahrhundert dazu: der entschiedene Wille, die eigene Selbstlosigkeit zu rühmen. Zwar verdankten sich Bahnhöfe, Brücken, Wassertürme einem rational gesinnten Erfindergeist, aber niemand verstand sie bloß als Zweckbauten, kalt und gemütsarm. Infrastruktur hieß Formenrausch, hieß Erzählfreude. Bahnhöfe sollten wie Kathedralen aussehen oder wie Burgen, und selbst Klohäuschen baute man mitunter als kleine Renaissancepaläste. Denn Infrastruktur bedeutete Stolz: Hier feierte sich ein gesellschaftlicher Überschwang. Und obwohl man dafür oft auf historische Stile zurückgriff, sprach daraus doch die Gewissheit, in den Formen der großen Geschichte eine noch größere Zukunft erblicken zu können. Technik war Schönheit, und die Schönheit sollte ungeahnte Kräfte wecken.

Die Gegenwart hat für solche Kräfte kaum etwas übrig. Denn obwohl unsere Gesellschaft sehr viel reicher ist als die des 19. Jahrhunderts, ist sie zugleich arm und verknausert, wenn es um immaterielle Werte geht. Was sich einst in der Schönheit des Nützlichen zeigte, in den kühnen Bahnhofshallen und majestätischen Brücken, waren ja nicht bloß Zuversicht oder Stolz. Es war vor allem eine Erfahrung der Freiheit.

Genau das bedeutet Infrastruktur: Mir wird vieles abgenommen. Ich kann mich freier bewegen, weil es Brücken gibt und ich kein Boot brauche, um ans andere Ufer zu gelangen. Zur Freiheit gehört auch, auf meinem Weg durch die Welt nicht permanent durch Fäkalien und Abwässer stapfen zu müssen, denn es gibt Siele, Kläranlagen, eine Infrastruktur, die mir viele Krankheitskeime vom Leib hält. Erst Infrastruktur ermöglicht einer Mehrheit der Menschen ein gelöstes, emanzipiertes Dasein.

Man muss das so pathetisch formulieren, weil die Freiheitseffekte der Technik oft unterschlagen werden. Es gehört ja zu den eher unschönen Eigenschaften des Menschen, dass er sich an alles gewöhnt: an Unerträgliches, aber mehr noch an das Angenehme, an das, was ihm Freiheit verleiht. Das Wasser kommt aus der Leitung, ich nehme es als selbstverständlich hin. Bis es eben nicht mehr läuft. Oder bis ich im Ausland merke, dass Leitungswasser auch ganz anders schmecken kann, nämlich nach Schwimmbad, schrecklich gechlort.

Die Würde der Infrastruktur

Wenn aber die Freiheit immer nur dann spürbar wird, sobald wir an ihre Grenzen geraten oder jemand uns die Freiheit raubt, dann liegt das Begrenzende und Beengende im Fokus. Und damit wiederum geht leicht eine kränkende Wirkung einher. Nichts missfällt ja dem modernen Individuum mehr als die Erfahrung der Abhängigkeit. Das Individuum möchte sich als autonom erleben, als souverän. Die Infrastruktur ermöglicht ihm diese Souveränität, denn wie gesagt: Sie nimmt ihm vieles ab.

Allerdings – das ist das Paradox – hat sie einen Preis: Es ist eine Souveränität der Einbindung und des Anschlusses. Und das im wortwörtlichen Sinn: Nur wer sich anschließt ans Strom- oder Wassernetz, kann die Vorteile der Infrastruktur, ihre befreienden Effekte wahrnehmen. Funktionieren sie aber nicht, ist das Abhängigkeitsgefühl umso größer. Freiheit wird als Unfreiheit erfahren. Und niemand muss sich über eine wachsende Reizbarkeit wundern.

So ist der Unmut darüber, die eigenen Reisen und damit das eigene Leben nicht mehr zuverlässig planen zu können, vollkommen berechtigt. Doch merkwürdig: Während selbst schwer verstaute Autofahrten oft mit Gleichmut hingenommen werden, schicksalsergeben, kommt es vielen so vor, als spiegele das Versagen der Bahn zugleich ein gesellschaftliches Versagen. Das kollektive Verkehrsmittel lässt uns am eigenen Leibe spüren, dass Infrastruktur immer eine Struktur für alle von allen ist. Sie stiftet Zusammenhalt auf unsichtbare Weise. Und versagt dieser Zusammenhalt, dann wird der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen und fühlt sich gerade deshalb besonders abhängig.

Umso naheliegender wäre es, mehr in all das zu investieren, was die Gesellschaft auf technische und zugleich soziale Weise verbindet. Doch mit Appellen allein, auch mit vielen weiteren Milliarden, wird der eigentliche Grund für defekte Stellwerke, löchrige Straßen oder einstürzende Brücken nicht zu beheben sein. Die Misere ist nicht bloß ein technisches, sie ist auch ein geistiges Problem. Sie zeugt von Ignoranz, von der wachsenden Geringschätzung für das, was eine moderne Gesellschaft erst möglich macht. Und also muss sich vor allem daran, an der Ignoranz, etwas ändern.

Im Umgang mit der Natur erleben wir gerade, wie schwierig eine solche Neubestimmung ist. Natur soll und kann nicht länger das sein, was uns nach Belieben zur Verfügung steht. Nicht länger eine Ressource, die unausschöpflich scheint und die wir ausbeuten dürfen. Ähnlich verhält es sich mit der Technik, die uns zur zweiten Natur geworden ist. Auch sie wurde immer als Mittel zum Zweck verstanden, ohne Eigenwert, ohne Eigenlogik, allein darauf ausgerichtet, den Fortschritt und damit die Freiheit voranzutreiben. Hier aber, wie im Umgang mit der Natur, braucht es ein anderes Bewusstsein: eine andere Vorstellung ihres Eigenwerts, ihrer Würde.

Es hört sich seltsam an, von der Würde der Infrastruktur zu sprechen. Sie soll gefälligst funktionieren, soll billig sein, flexibel, kurz: soll dem Menschen dienen, dafür gibt es sie. Und doch könnte Würde ein hilfreicher Begriff sein. Er öffnet die Augen für das, was gerade grundfalsch läuft und zur Geringschätzung der Infrastruktur beiträgt. Wir pflegen ein instrumentelles Verhältnis zur Technik. Und damit – ohne es recht zu ahnen – auch zu uns selbst.

Technik ist ja nicht das ganz Andere, vielmehr ist sie ein Teil von uns, sie bestimmt unseren Blick auf die Welt und auf das, was unser Leben ausmacht. So ist für viele Menschen das Handy längst zum dritten Auge geworden, und kommt es ihnen abhanden oder funktioniert auch nur das Netz nicht, dann fühlen sie sich blind und schutzlos, wie im freien Fall. Wenn wir also die Technik und mit ihr die Infrastruktur nur auf funktionelle Weise betrachten, betrachten wir auch uns selbst auf funktionelle Weise. Fragen wir aber nach ihrer Würde, fragen wir nach dem, was auch das Leben würdevoll macht.

Was passiert, wenn wir weitermachen wie bisher?

Das ist ein fremder, vielleicht auch befremdlicher Gedanke, weil wir uns daran gewöhnt haben, die Kunst der Infrastruktur bloß als dienend zu begreifen. Doch das blanke Zunutzemachen entwertet die Infrastruktur, entwürdigt sie – und führt damit zu genau der Geringschätzung, von der die vielen maroden Bahnhöfe und Brücken erzählen.

Wie aber könnte ein anderes, würdevolleres Verhältnis zur Technik entstehen? Es gibt dafür – wieder mit Blick aufs 19. Jahrhundert – eine nahe liegende Lösung: Der ästhetische Reiz muss neue Bedeutung gewinnen. Die Infrastruktur zu ästhetisieren, heißt nicht, sie vordergründig aufzuhübschen, sie irgendwie schön oder zumindest optisch erträglich aussehen zu lassen. Ästhetisierung meint zunächst einmal: die Infrastruktur mit Wertschätzung und Neugier betrachten zu wollen. Ihre oft übersehene Leistung endlich anzuerkennen. Und diese Anerkennung nicht nur einzelnen Erfindern oder Ingenieuren zuteilwerden zu lassen, sondern sie auch als Anerkennung einer Gesellschaft zu verstehen, die sie hervorbringt, die sich darin erkennt – oder zumindest erkennen könnte.

Im Moment ist es ja so: Je mehr Menschen mit Neugier auf das schauen, was sie umgibt und ihr Dasein bestimmt, auf die Brücken, die Stromkästen, die Funkmasten, desto mehr wird ihnen auffallen, wie hässlich sie oft aussehen. Und welches Desinteresse aus dieser Hässlichkeit spricht. Ein Desinteresse, das auch davon erzählt, wie gleichgültig die Gesellschaft sich selbst geworden ist.

Denn, ja, Infrastruktur dient der Daseinsfürsorge. Warum aber wird Daseinsfürsorge allein als etwas Materielles verstanden? Wenn wir Technik anders denken, anders betrachten, könnten wir auch die immateriellen Werte der Daseinsfürsorge in den Blick nehmen. Und also darüber debattieren, wie sich Infrastruktur auf unser Wirklichkeitsempfinden auswirkt. Also auf das, was wir wertschätzen und was uns als Kollektiv verbindet oder vorsichtiger: verbinden sollte.

Was aber passiert, wenn wir weitermachen wie bisher? Wenn Infrastruktur als etwas Notwendiges, aber tendenziell Lästiges und Teures missverstanden wird – immer kaputt, immer teuer, immer kompliziert? Dann setzt sich das Egodenken fort, das ohnehin eine zersetzende Wirkung aufs demokratische Gemeinwesen hat. Und die Ignoranz kennt kein Ende.

Allein auf einen rein funktional bestimmten Technikbegriff zu setzen, führt in die Irre. Dorthin also, wo wir uns ohnehin schon befinden. Was soll uns die Infrastruktur interessieren, wenn sich die Infrastruktur nicht für sich selbst interessiert? Woher soll die erhoffte Wertschätzung kommen, wenn sie ihren Wert nicht auch gestalterisch zum Ausdruck bringt, sondern sich mit einer Ästhetik der Indifferenz begnügt? Eine solche Infrastruktur der Nicht- und Null-Wahrnehmung erzeugt in der Folge eine Indifferenz zur Welt, und also muss es niemanden erstaunen, wenn sich auch die Menschen indifferent verhalten, wenn sie nicht länger zugänglich sind für alles, was Zukunft war und wieder sein könnte.

Erst eine Infrastruktur, die sich selbst wichtig nimmt, die nicht nur der alten Formel vom Schneller, Höher, Weiter verpflichtet ist, wird ihrer wahren Bedeutung gerecht. Und kann erst dann die Verbundenheit und Verbindlichkeit hervorbringen, denen sie sich zugleich verdankt.

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